Miatini University: Was gibt Reifen Grip?

Sportreifen haben Grip, weil sie auf mikroskopischer Ebene in die Unebenheiten des Asphalts auffüllen und dort starke Adhäsionskräfte aufbauen – neben mechanischer Adhäsion vor allem elektrostatische, wie Geckos auf Glasscheiben.

Die Meisten von uns werden in der Schule hinsichtlich Tribologie (Reibungslehre) höchstens von den Herren Amonton und Coulomb gehört haben. Ihnen zufolge hängt die Haftreibung (im Renn-Englisch „Grip“ genannt) nur vom Reibungskoeffizienten („Wie rau ist der Asphalt?“) und der Normalkraft, also der Masse („Wie schwer ist mehr Auto?“ bzw. „Wie viel Gewicht lastet auf meinen Reifen?“) ab.

Grip: F = μ x FN

Wie sagte Niki Nazionale? „Des is a kompletter Blödsinn.“

Wieso verwendet man dann Slicks, wenn die Auflagefläche irrelevant ist? Wieso haben breitere Reifen mehr Grip? Schließlich ist Kraft bloß Masse mal Beschleunigung (F=m*a). Die Erdbeschleunigung ist nun einmal gegeben, also bleibt nur noch die Masse als Variable?!

Ganz einfach: Weil die tatsächliche Aufstandsfläche eben doch zählt, solange man nicht von festen Materialien wie Eisen, sondern von viskoelastischen Materialien wie Reifen spricht. Je mehr Gummi man auf die Straße bekommt, desto mehr Grip (vereinfacht gesagt, aber wie immer ist die Welt nicht einfach; außer man ist AFD-Demagoge) hat man.

Wäre das Amontonsche Gesetz für Reifen korrekt, wäre die Größe der Reifenaufstandsfläche wurscht. Es könnten vereinfacht gesagt ein 500 kg Ariel Atom und ein 2.000 kg Pampers-Bomber die gleiche Kurve mit gleichen Reifen gleich schnell durchfahren. Der Tesla hätte zwar die vierfache Zentrifugalkraft zu bewältigen, hätte aber auch die vierfache Normalkraft („normal“ im Sinne von „senkrecht wirkend“) und somit den vierfachen Grip.

Trotzdem sitzt der Ariel Fahrer längst bei der Jaus’n, wenn der Tesler auf die Zielgerade einbiegt.

Im Physikunterricht wird immer erzählt, dass die Haftreibungskraft maximal so groß sein kann wie die Gewichtskraft (µ auf trockenem / nassem / eisigem Asphalt: 1 / 0,8 / 0,2). Top Fuel Dragster erreichen aber ganz ohne Spoiler dreimal (3 g) so hohe Längsbeschleunigungswerte. Pensionisten bei Eröffnung des Buffets schaffen sogar 4,2 g.

Adhäsion: bewahrt einen vor dem Kiesbett

In Wirklichkeit bleiben gerade für viskoelastische Materialien wie Gummi starke Adhäsionskräfte in Amontons Gesetz unberücksichtigt. Diese haben aber keinen kleinen Einfluss – beim Dragster sind diese Kräfte doppelt so hoch wie die Gewichtskraft, die auf die Reifen lastet!

Der Grund liegt darin, dass µ eben doch keine Konstante ist, sondern in der tatsächlichen Aufstandsfläche extrem viel passiert, was µ laufend verändert.

Es gibt fünf Arten von Adhäsion: mechanische, chemische, elektrostatische, Diffusions- und Adsorptionsadhäsion. Im Auto sind vor allem die ersten drei Arten wichtig.

Mechanische Adhäsion beschreibt die Verzahnung mit dem Untergrund. Jeder, der schon mal am Passo Rolle seinen Oh-Shit-Slide erlebt habt, weiß was bei glattem Belag passiert. Rennstrecken haben umgekehrt sehr rauen Asphalt, welcher eine stärkere Verzahnung ermöglicht. Wären die Reifen große Zahnräder auf einem Zahnradbelag, wäre der Grip bzw. µ unendlich.

In der Praxis muss zwischen Makro-Rauigkeit und Mikro-Rauigkeit unterschieden werden. Es gibt Beläge, die mit dem freien Auge rau erscheinen, deren Oberfläche bei genauerem Blick allerdings deutlich weniger Unebenheiten aufweisen als man meinen könnte.

Das Interessante: Die vermeintliche Aufstandsfläche des Reifens ist in Wirklichkeit viel, viel kleiner, weil der Gummi eben nicht mit dem kompletten Untergrund in Kontakt kommt – im Normalfall berührt ein Reifen laut Michelin einen neuen Belag mit lediglich 5-10% (!) der nominellen Aufstandsfläche.

Kontaktfläche eines Gummiblocks auf Asphalt bei wachsender Normalbelastung.

Bo Persson, der in der Forschung auf dem Gebiet der Tribologie die letzten 20 Jahre die Grundlagen des aktuellen Wissens geschaffen hat, spricht sogar von lediglich 1% tatsächlicher Aufstandsfläche.

Persson fand heraus, dass die tatsächliche Kontaktfläche maßgeblich durch die Adhäsion (grüne Kurve vs. blaue Admonton-Gerade) bestimmt wird und mit zunehmender Normalkraft zwar proportional, aber nicht linear zunimmt. Der Zuwachs an tatsächlicher Aufstandsfläche nimmt mit zunehmender Masse also ab, was auch empirisch gut validiert (rot) wurde:

Die grüne Kurve zeigt: Die Aufstandsfläche (–> Grip) eines Reifens steigt im Verhältnis zur Fahrzeugmasse mit ca. ^2/3.

Grip = FN2/3

Ein 500 kg leichter Ariel, dem man 1,5 t an Zuladung draufpackt, hätte also nur ca. 2,5mal so viel Grip, bei deutlich gestiegener Trägheit und höheren Fliehkräften. Der Grund ist einfach: Irgendwann kommt einfach der Punkt, wo der Gummi nicht noch mehr Oberfläche bedecken kann.

Auftritt Semislicks

Wir wissen also, dass ein Autoreifen aus 5 Meter Entfernung auf Grund der Masse und aus 5 cm Entfernung auf Grund der mechanischen Adhäsion haftet. Doch was passiert, wenn man noch weiter hineinzoomt in die Kontaktfläche?

Zoomt man mit einem Elektronenmikroskop in die Kontaktfläche, gelangt man schließlich an einen Punkt, wo elektrostatische Adhäsion die dominierende Größe wird. Je kleiner und leichter ein Teilchen, desto mehr wird die elektrostatische Adhäsion der dominierende Faktor. Die positiven Ladungen in der Gummioberfläche ziehen sich an die negative Ladungen in der Asphaltoberfläche.

Griffige Beispiele:

  • Ein frisch auf den Asphalt geklebter Kaugummi dürfte laut Amonton und Coulomb nicht mehr Grip haben als sein Eigengewicht ermöglicht. Dennoch klebt er deutlich stärker am Boden.
  • Ein Streifen Duct Tape auf Glas klebt auch deutlich stärker, als es die paar Milligramm durch die Schwerkraft ermöglichen. Würde man das Tape im Dunklen abreißen, könnte man möglicherweise sogar kleine Entladungsblitze beobachten).
  • Morgentau haftet an Blättern
  • Staub haftet an einem senkrechten Spiegel

Die elektrostatische Anziehung ist es auch, welche z.B. Geckos oder Insekten an Spiegelflächen hochlaufen lässt: Millionen feine Häärchen an den Füßen sorgen für die nötige elektrostatische Anziehung (zur Wechselwirkung auf noch kleinerer, atomarer Ebene siehe auch: Van-der-Waals-Kräfte).

Genau hier kommen Sportreifen (UHPs, Semislicks, Slicks) zum Tragen: Sie nützen deutlich stärker als normale Sommerreifen jene Adhäsionskräfte, die nicht mehr alleine durch mechanische Adhäsion (vereinfacht gesagt: weicherer Gummi für bessere Verzahnung, also mehr Hysterese und Wärme) erklärt werden können, sondern auf deutlich kleinerer Ebene stattfinden.

Der Clou: Sportreifen sondern Harze ab, welche in jene „Täler“ und Vertiefungen im Fahrbahnbelag fließen, die vom Gummi nicht erreicht werden können, und liefern dort durch elektrostatische Anziehung einen beträchtlichen Beitrag zum Grip.

Dabei ist die richtige Temperatur (warmfahren bzw. vorheizen) entscheidend: Die Harze müssen erst einmal diffundieren können. Ich stelle mir das ein wenig wie Honig vor, der sehr kalt im Kühlschrank gelagert wurde und auf ein Brot geschmiert wird. Bei Null Grad ist er fast wie ein Feststoff; mit zunehmender Erwärmung fängt er an durch die Poren des Brots zu fließen und klebt an den Fingern.

Der allmähliche Verlust dieser Harze im Fahrbetrieb ist der Hauptgrund, wieso F1-Reifen über die Renndistanz abbauen – sie werden schlichtweg leergesaugt. Deswegen sind Hitzezyklen auch der größte Feind des Rundstreckenenthusiasten: Mit jedem Mal verliert der Reifen mehr Harze.

Die Kunst für Rennfahrer und Sportfahrer ist, die Summe aller Adhäsionskräfte zu maximieren – das berühmte „Temperaturfenster“. Für Toyo Semislicks werden 70-105° C empfohlen, aktuelle F1 Reifen arbeiten je nach Modell zwischen 85 und 145° C.

Zu kalt, und der Gummi kann sich nicht an genügend Asphaltunebenheiten anschmiegen bzw. Harze absondern (man bekommt „keine Temperatur in den Reifen“). Zu warm und der Reifen gibt zwar viele Harze ab, die Gummigrenzschicht wird aber zu weich und der Reifen schwimmt auf einer dicken „verflüssigten“ Gummischicht – er „schmiert“.

Auch die Bodenbeschaffenheit bzw. Witterung kann verhindern, dass sich der Reifen optimal mit dem Boden verbinden kann. Wasser (oder Staub) in den „Tälern“ des Asphalts ermöglicht weniger mechanische Adhäsion (es macht die Oberfläche „runder“) und reduziert zudem durch Erhöhung des Abstandes zwischen Reifen und Asphalt die elektrostatische Anziehung.

Ist breiter immer besser?

Wie gezeigt, bietet nicht automatisch ein breiterer Reifen, sondern eine größere tatsächliche Aufstandsfläche mehr Grip. Die Aufstandsfläche kann in meinen Augen, von einer Makro- bis zur Mikroebene runtergebrochen, unter anderem durch folgende Faktoren vergrößert werden:

  • mehr Masse, die auf den Reifen wirkt (ungeachtet anderer negativer Effekte)
  • breitere Reifen
  • Reduktion des Negativanteils im Profil (Slicks > Semislicks > UHP > Sommerreifen > Winterreifen)
  • maximale Aufstandsfläche (sorry, Stancenation!)
  • weichere Gummimischung
  • optimale Reifentemperatur
  • mehr/bessere Harze
  • frischere Reifen

Breitere Reifen bieten einige nicht zu vernachlässigende Nachteile. Je breiter ein Reifen (mit entsprechender Felgenbreite) ist, desto weniger Schräglaufwinkel hat er. Er verformt sich also weniger und erzeugt weniger Wärme – bekommt man nicht genug Wärme in den Reifen, wird dieser womöglich nicht in den optimalen Temperaturbereich kommen und unterm Strich weniger Grip bieten als ein schmalerer Reifen, der kumuliert höhere Adhäsionskräfte zusammenbringt.

Auch der Luftwiderstand ist nicht zu verachten. Der Rollwiderstand sinkt zwar ceteris paribus, aber dieser ist eher im Radsportbereich der limitierende Faktor, während beim Auto der mit der Geschwindigkeit exponentiell zunehmende Luftwiderstand das größte Übel ist. Man stelle sich einen 10 m breiten Reifen vor, wie viel Luftwiderstand dieser böte. Auch die Auftriebskräfte wären in diesem Gedankenspiel nicht zu vernachlässigen. obendrein gehen breitere Reifen mit einer Erhöhung der (ungefederten) Rotationsmasse einher.

Das Fahrzeug wird sich also träger lenken, langsamer beschleunigen und weniger Endgeschwindigkeit haben. Das mag egal sein, wenn ein dicker Turbo anschiebt, sollte aber gerade bei Serienleistung nicht vergessen werden.

Ich denke bis 160 PS Motorleistung wird ein MX-5 mit 205/50 R15 am besten ausgestattet sein; den Kurvengrip würde ich mit einem dem Temperaturfenster und Einsatzzweck angemessenen Reifenmodell steuern. Bis 250 PS würde ich einen 225er nehmen, darüber einen 245/40 R15.

Anmerkung: Auf Sturz, welcher lediglich ein Instrument zur Steuerung der Oberflächentemperatur, und Reifendruck bin ich in diesem Artikel bewusst nicht eingegangen.

Weiterer Lesestoff

  • All jenen, die sich weiter in das Thema einlesen wollen, empfehle ich wärmstens die veröffentlichten Fachartikel von Bo Persson, zu finden auf http://www.multiscaleconsulting.com/
  • Continental und Michelin haben interessante Dokumente für den interessierten Laien veröffentlicht.
  • Das F1technical Forum bietet zahlreiche Threads wie diesen hier, in dem sich sachverständige Ingenieure aus diversen Rennserien tummeln. Erst nachdem ich zufällig dieses Forum entdeckt hatte, hatte ich begonnen mich näher mit den Wirkungsweisen von Traktion zu beschäftigen.


Disclaimer: Die Miatini University versteht sich als Ort des Diskurses. Die präsentierten Erkenntnisse beruhen nicht auf meiner eigenen Forschung; ich versuche sie lediglich verständlich aufzubereiten. Ich bin weder Wissenschafter noch Ingenieur. Daher verwende ich sicher nicht immer die wissenschaftlich korrekten Ausdrücke bzw. kann ich nicht für die Richtigkeit meiner gedanklichen Ableitungen garantieren, würde mich aber gerade deshalb über sachkundiges Feedback freuen.

2 Antworten auf „Miatini University: Was gibt Reifen Grip?

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  1. Ich steh auf deinen Humor! Zitat: „Pensionisten bei Eröffnung des Buffets schaffen sogar 4,2 g.“ *gg*
    Im Ernst, ich finde die Idee der Miatini University super! Den Artikel, der sich mit dem Grip der Reifen beschäftigt, hab ich förmlich aufgesaugt.
    Ich bin auch einer der Wahnsinnigen, die dann und wann einen MX-5 NA auf Rennstrecken bewegt. Und ich bin auch immer versucht die Drivability meines MX-fight zu verbessern. Bitte mach weiter mit der Miatini University, wo kann ich inskripieren?
    Ciao Mario

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